Dr. Jürgen Häusler in seiner «Aufgelesen»-Reihe über Dada heute.
Am 20. April 2016 trafen sich Vertreter der (kritischen) Intelligenz (hauptsächlich) Zürichs, um zu diskutieren: „Welche Geschichte braucht die Nation? Zur Schweiz im 20. Jahrhundert.“ Natürlich ging es nicht nur um die Schweiz. Und es ging natürlich nicht nur um Geschichte. Es ging angesichts des ökonomisch-politischen Alltags in der Welt darum, ob man sich eine Zukunft ohne Staat vorstellen könnte, dürfte, sollte, ja vielleicht sogar müsste. Allerdings war diese Frage so nicht zugelassen. Der Elefant stand im Raum. Aber gesehen hat ihn (fast) niemand. Doch dazu später.
Cabaret Voltaire
Die Veranstaltung fand im Cabaret Voltaire statt. Sozusagen als Teil der Jubiläumsveranstaltungen zum hundertjährigen Geburtstag Dadas am Geburtsort. Dies wurde nicht explizit erwähnt. Es wurde aber auch nicht dementiert. Erlauben wir uns also das folgende Gedankenspiel: Was hätten die damaligen Akteure im Cabaret Voltaire wohl zu dieser Veranstaltung in unserer Zeit gesagt?
Es ist (mir) nicht bekannt, dass die Dadaistinnen und Dadaisten etwas, oder wenn ja, was explizit zum Nationalstaat gesagt haben. Sie waren sicher dankbar, dass der Nationalstaat Schweiz ihnen das Überleben ermöglichte. Sie fühlten sich aber auch in vielerlei Hinsicht wohl nicht wie im Paradies. Ihr Überleben war prekär. Und sie erlebten die schon auch hässliche Seite des Nationalstaates Schweiz in der Rolle des Gastgebers. Sie wurden polizeilich verfolgt. Man darf ferner annehmen, dass sie den Nationalstaat eher in die Reihe der bürgerlichen Errungenschaften, Institutionen und Normen eingeordnet hätten, denen sie die wesentliche Schuld am epochalen Elend rund um den ersten Weltkrieg zuschrieben. Sie wendeten sich gegen bürgerliche Vorstellungen von Kunst. Sie hätten den bürgerlichen Nationalstaat wohl kaum als Heilsbringer gefeiert. Sie misstrauten vermeintlich unumstösslichen Wahrheiten, sie bekämpften die Zwänge einer scheinbaren Vernunft, sie waren offen für das bisher nicht Gedachte oder Erlebte.
Sie wären über die angesprochene Diskussion insofern zunächst erfreut gewesen, als sie neben zwei längst vorgefertigten, ideologisch fixierten Positionen zum Nationalstaat (rechte Apologeten und linke Kritiker als Fraktionen im gemeinsamen Fanclub des Nationalstaates) noch eine dritte Einschätzung präsentiert bekommen hätten, die diesen als grundsätzlich ambivalent charakterisierte. Jakob Tanner verwies sowohl auf das progressiv egalitäre als auch auf das hässlich aggressive Potential des Nationalstaates. Wie sich diese zwei Gesichter des Nationalstaates jeweils historisch darstellen, sei für ihn die immer wieder spannende und empirisch zu beantwortende Frage.
Jakob Tanner vertrat diese These vom prinzipiellen Doppelgesicht des Nationalstaates wiederholt, vehement, engagiert, empathisch und differenziert. Umso mehr hätte es die Dadaistinnen und Dadaisten erstaunt, wie uneinsichtig, widerwillig und mürrisch die Anwesenden auf das Angebot einer ambivalenten Auslegeordnung und der daraus folgenden Möglichkeit beziehungsweise Notwendigkeit zur Konkretisierung in der Diskussion reagierten.
Seltsam ausgeblendet wurde empirisch die Welt ausserhalb Europas. Wenn Swiss von Zürich länger als drei Stunden fliegt, hört für die (kritische) Intelligenz Zürichs der Beobachtungsraum scheinbar auf.
Befremdlich unreflektiert wurde der Nationalstaat zur heiligen Kuh stilisiert, wenn es um seine wohlfahrtsstaatlichen Leistungen geht. Die Verteidigungslinien hören hierbei wie am Stammtisch an der Grenze und bei eventuellen Neuankömmlingen auf. Diesseits führt (besorgtes) Mitleid zum Mitmachen auf. Jenseits lähmt (bedauerliches) Leid das Nachdenken über Aktionsmöglichkeiten.
Die eigentlich unfassbaren schreienden – und zunehmenden, nicht verschwindenden – Ungerechtigkeiten innerhalb wie zwischen Nationalstaaten verschwammen im sprachlichen Nebel von „asymmetrischen Beziehungen“ oder neu zu definierenden „Differenzen“. Als sei es (in Zürich) intellektuell nicht (mehr) erlaubt, sich zu empören. Keine Spur von Angriffslust. Nicht einmal eine Andeutung von machtkritischem Impuls. Und intellektuelle Neugier? Fehlanzeige.
Wie ihre eigene Reinkarnation nach hundert Jahren hätten die Dadaistinnen und Dadaisten schliesslich das Schauspiel erlebt, dass die Grundsatzfrage mit Sprengkraft – ob wir uns nämlich eine Zukunft ohne Nationalstaat überhaupt vorstellen können und wie wir an dieser Utopie zumindest intellektuell arbeiten könnten – im wahrsten Sinne des Wortes von ausserhalb, von der Strasse, durch das geöffnete Fenster vorgetragen wurde. Die Reaktion wäre den Dadaistinnen und Dadaisten bekannt vorgekommen: Kopfschütteln, betretenes Wegsehen, inhaltliches Ignorieren. Die Frage wurde als „Anmerkung“ zu den Akten gelegt. Also Höchststrafe im (kritischen) intellektuellen Diskurs.
Alles in allem wären die Dadaistinnen und Dadaisten wohl enttäuscht von diesem Abend gewesen. Zu sehr geschlossene Gesellschaft. Sprache als Ausschlussmechanismus. Rebellisch nur auf dem Niveau der auf die Schweiz bezogenen Anekdote. Keinerlei Offenheit für das Wagnis, das Undenkbare zu denken.
Hoch wären die Erwartungen der Dadaistinnen und Dadaisten gewesen. Angesichts der für sie offensichtlichen Ähnlichkeiten zur Lage der Welt vor hundert Jahren hätten sie ähnlich Rebellisches, Herausforderndes und Weltbewegendes erwartet wie an gleicher (Wirkungs-)Stätte vor hundert Jahren. Dafür sprach vorab die eigentliche Qualität der beteiligten Akteure und insbesondere auch Institutionen: die mächtige (geistige) Kapazität des Zentrums „Geschichte des Wissens“ und der Plattform „Geschichte der Gegenwart“ – und der nicht beschworene Geist des Versammlungsortes.
Die Hoffnung aufgegeben hätten die Dadaistinnen und Dadaisten sicher nicht: Auch sie benötigten viele Veranstaltungen, einige Monate Zeit und eine deutlich internationalere Verbreitung, um die epochale Bedeutung zu erlangen, die sie bis heute auszeichnet.
Cabaret Voltaire 1916: