Tactography™ – Teil 3, 11. Oktober 2016
Die letzten Minuten vor der Vernissage
Für den Anitta Besuch haben wir gerade mal einen Zehntel der Ausstellung fertig aufgebaut. Der Rest ist noch echte Baustelle. Es fehlt an allem. Der Boden muss noch mit einem speziellen Leitsystem für Blinde ergänzt werden. Die Bilder hängen noch an keiner Wand richtig. Die Beschriftungstafeln fehlen, das Licht ist noch nicht montiert und so weiter und so fort. Ich stehe mittendrin und habe 8 Arme zu wenig.
Die Crew um Luis macht aber einen sehr guten Job. Wenn es sein muss, rund um die Uhr. Und etwas, was ich bei uns in der Schweiz manchmal vermisse: Bei aller Hektik sind alle immer gut drauf. Kaum ein Gefluche, ein Witz da oder dort, manchmal eine sarkastische Bemerkung und viel Dankbarkeit, wenn eine tolle Leistung erbracht wird. Selbst noch dann, wenn der Monteur schon seit 18 Stunden nonstop auf den Beinen steht. Wenn man Schweizer Präzisionsanspruch mit dem brasilianischen Lebensgefühl kombinieren könnte, wäre das grosses Kino und definitiv «the place to work».
So ist es auch absolut OK, dass die Ausstellung statt zur Eröffnung um 19:00 Uhr erst um 19:05 Uhr bereit ist. Aber sie ist fertig und meine Nerven noch einigermassen heil; zudem spreche ich jetzt flüssig «Portugñol». Das ist wenn man Spanisch und Portugiesisch kreativ und situationsbedingt mischt.
Der Caipirinha wird den zahlreichen Gästen kunstvoll vom Barkeeper serviert. Die Häppchen machen die Runde und die Gäste bestaunen und berühren die Tactopgraphys. Der grosse Aufwand für Vorbereitung, Aufbau und das Einladen der Gäste hat sich definitiv gelohnt. Es kommen rund 250 Besucher an die Vernissage und am ersten offiziellen Ausstellungstag bestaunen rund 400 Gäste die Werke von Gabriel Bonfim.
Normalerweise heisst es ja in einem Museum «Bitte nicht berühren». Bei den Tactographys darf und soll man berühren. Das ist ja nicht nur den Sehbehinderten vorenthalten. Wir haben festgestellt, wie schwierig es für Sehende ist, die Bilder zu erkennen. Insofern leisten wir mit der Ausstellung auch Aufklärungsarbeit und schaffen Verständnis für Menschen mit einem Handicap. Gerade in einem Land wie Brasilien gibt es weniger Möglichkeiten als bei uns. Umso mehr wird es geschätzt, dass man für Behinderte ein Angebot schafft.
Letztendlich ist es aber auch Kunst, die unter wohlhabende Sammler gebracht werden will. Dazu sind nun eine Reihe von Kontakten entstanden, die uns hoffen lassen, dass Tactography™ sich tatsächlich zu einer neuen Kunstform entwickelt – und auch verkaufen lässt.
Anitta Superstar
Einen Künstler küsst die Muse. Bei mir ist es keine griechische Göttin, sondern der brasilianische Superstar Anitta, der sich bei mir mit einem Kuss auf die Backe vorstellt. Nun ist das in Südamerika so üblich und muss daher nicht weiter erklärt werden. Speziell ist es trotzdem.
Anitta, ist eine brasilianische Sängerin, Songwriterin, Schauspielerin und Tänzerin, die mit ihren jungen 23 Jahren bereits 13 Millionen Fans auf Facebook angezogen hat, locker 100 Millionen Views auf einem Youtubefilm produziert und über 300 Millionen Dollar auf ihrem Bankkonto bunkert. So munkelt man zumindest. Auf jeden Fall ist Anitta eine begnadete Selbstdarstellerin und läuft mit ihrer Entourage und etwa 10 Smartphones rum, mit denen sie jeden Atemzug auf Snapchat und Co dokumentiert.
Im Weiteren ist sie mit einer blinden Freundin namens Nathália aus der Schulzeit befreundet. Mit ihr hat sie sich im Museum of Image and Sound (MIS) in Saõ Paulo getroffen, um als erste die Tactography-Bilder von Gabriel zu bestaunen. Das Ganze wird begleitet von einer Horde Journalisten mit Kameras.
(v.l.n.r. Anitta, Gabriel, Nathália)
Bei allem «Buzz»: Echt erstaunlich und auch berührend sind die Bemerkungen von Nathália, die von Geburt weg blind ist. Bei gewissen Tactographys erkennt sie den Inhalt sofort. Bei einem Bild von Andrea Bocelli am Klavier beschreibt sie nur durch das Ertasten des Gesichts die Gefühle, die der weltbekannte Tenor beim Klavierspiel in diesem Moment hatte. Gabriel steht daneben – den Tränen nahe. Den Journis fallen vor lauter Emotionen fast die Kameras aus der Hand.
Der Manager von Anitta schaut nach einer Weile immer öfters nervös auf die Uhr und die Batterien aller Smartphones stehen offenbar auch bereits kurz vor Betriebsschluss. Anitta hat es aber überhaupt nicht pressant und bleibt über 2 Stunden bei uns im MIS.
Tactography™ – Teil 2, 10. Oktober 2016
Eine Kunstausstellung ist eine Kunstausstellung ist eine Kunstausstellung.
Es gibt in unserer kleinen Reisegruppe eine Diskussion, was das Kunstverständnis in Brasilien betrifft. Etwas übertrieben formuliert, würde ich es auch als einen kulturellen Disput bezeichnen. Ich frage mich, ob eigentlich alle am Projekt Beteiligten verstehen, dass wir eine Kunstausstellung für Kunstsammler organisieren? Oder sind wir Teil eines Kultur-Zirkusses zwischen Carnaval, Futebol und Telenovela?
Andere Länder, anderes Kulturverständnis?
Die Eröffnung der Ausstellung «De Fotografia à Tactography» wird von der brasilianischen Sängerin Anitta bestritten. Das ist wie wenn in der Schweiz die Fussballnationalmannschaft von Roger Federer angeführt, eine Kunst-Ausstellung eröffnet. Dazu die vereinigte lokale Presse, Fernsehteam, Kameras usw.. So viel Prominenz muss hier wohl sein, um die Aufmerksamkeit für eine Ausstellung zu befeuern. Aber zieht das am Ende auch die richtigen Besucher und Interessenten an? Da gehen die Meinungen deutlich auseinander, wobei wir wieder bei unserem kulturellen Disput sind. Ich enthalte mich einer Wertung. Dafür bin ich zu wenig lang im Land. Und wie heisst es so schön? Andere Länder, andere Sitten. Und ich müsste es hier wohl ergänzen mit: anderes Kulturverständnis. Lassen wir uns also überraschen. Ich habe das Drehbuch für das Video von Anittas-Kurzauftritt geschrieben und bin gespannt, ob ich die kulturelle Eigenart getroffen habe. Kann ja durchaus sein, dass die Prominenz dann doch etwas ganz anderes daraus macht. Dem lokalen Regisseur gefällt es zumindest.
Eine andere Baustelle ist die Baustelle
Ebenso erwähnenswert ist die Tatsache, dass das standardisierte RAL-Farbsystem in Brasilien einen leichten Gelbstich aufweist. Die Wände haben also nicht ganz das angestrebte identische Weiss der Tactography™-Bilder. Nicht nur das Gemüt ist sonniger, die Farben sind es auch. Am meisten Bauchschmerzen bereitet uns noch die Feuerpolizei. Ein Notausgang ist auf Grund der gestellten Wände nicht mehr korrekt nutzbar. Da wird wohl nur die Kettensäge helfen. Es bleibt spannend bis zur baldigen Eröffnung.
Meister des Schraubenziehers…
Tactography™ – Teil 1, 7. Oktober 2016
Flughafen Zürich. 250 Kilo Material – das wir für die erste Tactography™ Ausstellung von Zürich nach Saõ Paulo befördern müssen – türmt sich vor uns auf. Acht Trolleys wollen von gerade mal vier Personen quer durch das Terminal 1 gestossen werden. Das überfordert nicht nur uns, sondern auch die Check-In-Frau am Swiss-Schalter.
(v.l.n.r. Gabriel Bonfim, Fotograf und Frank Simoni, Assistent des Managers)
Die Swiss-Mitarbeiterin versucht uns – gefühlte zehn Mal – auf den Flieger zu bekommen und immer wieder läuft etwas schief. Falsches Gepäck bei der falschen Person, zu lange Gepäckstücke, falsches Gewicht, Beförderungslimiten, fehlende Frequent-Traveller Nummern, falsche Einträge im Reservationssystem usw.. Schlussendlich steht das ganze Terminal-Personal hinter dem Tresen, was den Vorteil hat, dass die knapp vierstellige Gebühr für das Übergepäck dann noch vergessen geht. Dafür ist dann niemand mehr zuständig. Aber das ist uns jetzt egal. Schliesslich klappt es doch und nach einem doppelten Gin Tonic machen wir uns auf den Weg zum Gate.
Tactography™ Risikomanagement
Zuvor will aber noch eine Wette eingelöst werden: Die Tactography™-Bilder, die Rahmen, die Wände, die Beschriftungstafeln usw. wurden alle in RAL 9016 eingefärbt. Um für alle Fälle gewappnet zu sein, lasse ich mir vom Produzenten eine Glasflasche mit der gemischten Farbe mitgeben. So könnte ich kleine Hicke und Flecken problemlos ausbessern, sollte mal etwas abblättern.
Nun ist die Flasche nicht nur zerbrechlich, sondern auch mengenmässig viel zu gross. So fülle ich vor der Abreise ein kleines Confi-Glas mit der Farbe ab. Aufgeben will ich es wegen der Auslaufgefahr nicht; es soll ins Handgepäck. Bekanntlich sind dort aber nur 100ml-Gefässe erlaubt (mein volles Confi-Glas fasst 213ml). Also was tun? Das, was man in der Werbung auch tut: Auf ein Produkt XY schreiben, damit die Leute glauben, dass XY drin ist. Also pappe ich 100ml-Etiketten auf die Flasche. Vorne und hinten – und dann ab damit in den Plastiksack. Und tatsächlich, der Sicherheitsbeamte schaut es zweimal an – vorne und hinten – und legt es dann wieder auf’s Band. Niemand in der Agentur wollte mir glauben, dass das klappt. Wette gewonnen!
In Saõ Paulo müssen wir die nächste Hürde überwinden: Den Import einer kompletten Kunstausstellung inkl. aufwändiger LED-Beleuchtung. Wir sind auf alles gefasst. Schliesslich müssen wir eine der zugeschraubten Transport-Kisten mit den Kunstwerken öffnen, was dem einzigen Schraubenzieher der Zollstation in Saõ Paulo den Garaus gemacht hat. Die zweite Kiste, in die der Zöllner noch reinschauen will, bleibt daher verschlossen. Unser Lerneffekt: Kein eigenes Werkzeug mitnehmen. Dann geht das (für uns) reibungslos. Das Zollpersonal schaut die Bilder ganz genau an und wir versorgen sie mit Einladungen für die Vernissage. Die teuren LED-Lampen interessieren sie nicht. Nach eineinhalb Stunden Wartezeit kommt das OK von der Zoll-Chefin! Kein Geld, keine Importkosten alles bestens. Ein Import in die Schweiz wäre wohl komplizierter – und vermutlich auch teurer – gewesen.
Nach einem ersten Besuch im «Museu da imagem e do som» machen wir uns an die letzten Vorbereitungen. Am Dienstag geht’s los und bis dann gibt es noch viel zu tun. Fortsetzung folgt…
Was ist Tactography™?
Ein neues Kunsterlebnis für Blinde und Sehende. Mit Tactography™ werden Fotografien dreidimensional dargestellt und sind somit nicht nur den Sehenden vorbehalten, sondern werden auch für blinde Menschen «lesbar». Tactography™ ist ein Designprozess, der in der Schweiz erfunden wurde und auf Stereolithografie basiert (STL). Mehr zum Thema und dieser ersten Ausstellung: https://www.evoq.ch/projekte/tactography