Dr. Jürgen Häusler in seinem dreiteiligen Plädoyer zum Thema «Wo wollen wir leben?»
Ein bedeutender „Vordenker von Metropolen“ und „Meister der Urbanistik“ fordert in diesen Tagen emphatisch: „raus aus den Städten!“ (Stahl 2017). Den Architekt Rem Kohlhaas treibt es aufs Land. Er bereitet eine Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum für 2019 vor, die seine neue „obsession“ ausführlich begründen und erläutern soll: „Countryside: Future of the World“ (Barone 2017).
Die Ausstellung bildet den Fluchtpunkt einer Forschungsreise, auf die sich Rem Kohlhaas mit Kollegen seines „Office for Metropolitan Architecture“ seit einigen Jahren begeben hat. Weltweit besucht das Team 15-20 Gegenden (u.a. Sibirien und Nevada), die ihm repräsentativ dafür erscheinen, was er „countryside“ nennt: „anything that is not a city“.
Nachdem Kohlhaas bisher stets von Städten fasziniert war, wendet er jetzt den Blick in die „andere Richtung“, auf „das andere – das Land“. Tut er dies aus Langeweile nach zwanzig bis dreissig Jahren Beschäftigung mit dem Urbanen und auf der Suche nach einer neuen „Spielwiese“? Oder aus politischer Frustration über die schockierende aktuelle Macht des Ländlichen (beispielsweise die dortigen Erfolge von Donald Trump)? Wohl hauptsächlich wegen der Erkenntnis, wie eng beide Raumstrukturen zusammenhängen: „Hinter den urbanen Kulissen wohnen all die Dinge, die eine Stadt braucht, um zu überleben. Eine durchorganisierte und digitalisierte Agrarwirtschaft, gigantische Warenhäuser von Amazon, Datenzentren.“
Bisher scheint das Team also auf dem Land die Kehrseite oder den Hinterhof der Stadt gefunden zu haben – und dies in furchterregender Ausprägung: „inhabited by machines and by robots, and few people“. Um das Zelebrieren ländlicher Idylle geht es Kohhaas offensichtlich nicht. Er glaubt nicht daran, dass das Land im Kontrast zur städtischen Umgebung „pittoresk, idyllisch, urig“ sei.
Geweckt wurde sein Interesse am Ländlichen während seiner zahlreichen Ferienaufenthalte in Celerina: „dort konnte ich beobachten, wie stark sich das Dorf wandelte.“
Man darf auf die Ausstellung gespannt sein. Deutlich wird aber schon jetzt, dass Kohlhaas seinen Vorstellungen von der räumlichen Gestaltung der Welt auch zukünftig einen binären Code zugrunde legt: „city“ versus „not city“. Und damit steht er natürlich nicht alleine.
Wenn es um die Entscheidung geht, wo man leben möchte, dann können sich heutige Zeitgenossen den Möglichkeitsraum kaum anders vorstellen als in der Dichotomie von „Stadt“ oder „Land“. Mit beiden Räumen sind deutliche, wenn auch jeweils ambivalente Vorstellungen und Bilder verbunden, die über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, geprägt wurden – in wirkungsmächtiger Einigkeit, die von wissenschaftlichen Debatten über fiktionale Darstellungen bis zur einschlägigen Werbung reicht.
„Stadtluft macht frei“ ist natürlich der weitestgehend noch immer gültige Klassiker in diesem Diskurs. Der Siegeszug der Stadt (in Europa) begann am Übergang zur Neuzeit, die grosse Zeit der Metropolen läutete das 19. Jahrhundert ein. Heute lebt mehr als die Hälfte der Menschheit in Städten (Schott 2017). In der Schweiz leben über drei Viertel der Bevölkerung in „Agglomerationen“, also städtischen Räumen, bestehend aus den eigentlichen Städten, sub- sowie periurbanen Räumen und urbanisierten Landschaften (Walter 2015).
Moderne Gesellschaften sind „stadtsüchtige Gesellschaften“: „Die urbane Faszination ist ein Fetisch im Selbstverständnis der europäischen Moderne“. Die Stadt erscheint als „Kristallisationspunkt von Ideen“, „Schmiede des bislang Ungehörten und Ungedachten“ (Ajouri u.a. 2015). Natürlich glänzen Städte nicht „nur“ als Hort der Freiheit und Quelle von Innovationen. Städte zogen schon immer auch an wegen der mit ihr assoziierten Chancen auf Arbeit und Einkommen. Menschen leben immer auch – vorrangig? – in Städten, weil sie dort arbeiten können.
Gleichzeitig begleitet die Stadtsucht durchgängig ein mehr oder weniger radikaler und mehr oder weniger manifest werdender Anti-Urbanismus. Das Bauen in Serie in modernen Industriestädten schreckt in dieser Perspektive ab. Monotonie und Austauschbarkeit langweilen. Das Leben in „Containern“ begeistert natürlich nicht. Das Misstrauen gegen Städte beklagt Freiheit als Vogelfreiheit und erregt sich über die „Idiotie des Stadtlebens“ mit ihren krankhaften Phänomenen wie „Anonymität, Entfremdung, Isolation oder Entwurzelung“ (Höhne 2015).
Vor diesem Hintergrund besticht das Dorf als das „idyllische Andere“. In konjunkturellen Wellen wird das Dorf immer wieder zum utopischen „Gegenort“, der ein selbstbestimmtes und naturverbundenes Leben verspricht. Wie schon bei der eingangs beschriebenen Entdeckungsreise von Rem Kohlhaas darf nicht weiter irritieren, dass den „Apologeten des Dorfes dessen Bewohner und ihre Lebenswirklichkeit weitestgehend unbekannt“ zu sein scheinen. Massive Abwanderung, Überalterung, beengende soziale Kontrolle sowie erodierende soziale und medizinische Infrastrukturen können in dieser idealisierenden Perspektive das Dorf als Sehnsuchtsort nicht nachhaltig diskreditieren. Als „dörfliche Oasen“ tauchen die vermeintlichen Segnungen des Landlebens versuchsweise auch „inmitten des anonymen Grossstadtmolochs“ auf.
Festzuhalten bleibt, dass seit Jahrhunderten das Verhältnis von Stadt und Dorf immer als „dualistische, wenn nicht gar antagonistische Beziehung“ gedacht und verhandelt wird. Bis heute „fungieren Dorf und Stadt … als eine Leitdifferenz westlicher Kultur- und Gesellschaftstheorie“. Der Gegensatz scheint im „Quellcode der Moderne“ eingeschrieben (Höhne 2015; vgl. zur Diskussion in der Schweiz vgl. Illi/Zangger 2015).
Nun leben wir bekanntlich in der Post- oder Spätmoderne. Eröffnet das nicht auch neue Perspektiven, ergeben sich dadurch nicht auch neuartige Optionen? Ganz grundsätzlich sollte der Strukturwandel, der die neue Zeit einläutet, neuartige Handlungsoptionen ergeben. Die sich entwickelnde „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2017) schafft neue Sichtweisen, Verhaltensmuster und Entscheidungsraster: „Die Spätmoderne erweist sich so als eine Kultur des Authentischen, die zugleich eine Kultur des Attraktiven ist.“
Unter diesen sich verändernden Rahmenbedingungen hat ein Angebot – beispielsweise einer Destination – dann eine Chance, wenn es glaubwürdig, anziehend, differenziert und letztlich singulär daherkommt. Ein gleichzeitig attraktives und unterscheidbares Angebot für einen Lebens- und Arbeitsraum kann grundsätzlich auch eine Raumkonstellation jenseits der „sehenswerten Stadt“ oder des „lebenswerten Dorfes“ sein. Die neue räumliche Leitdifferenz der Spätmoderne könnte drei Optionen beinhalten, wenn es um die Frage geht: wo wollen wir leben? In besonderem Masse singulär könnte ein Raumangebot sein, das sich durch die räumlich eng geknüpfte Koexistenz von Stadt und Land und die ökonomisch und soziale Gleichzeitigkeit von Urbanem und Natürlichem auf engem Raum auszeichnet.
Prof. Dr. Jürgen Häusler war bis zu seinem Ruhestand Chairman bei Interbrand Central and Western Europe. Als Honorarprofessor unterrichtet er strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig. Er ist Verwaltungsrat der evoq communications AG und schreibt im Blog von evoq rund um die Themen Branding, Design und Kommunikation.
Quellen:
- Photo by Hector Argüello Canals on Unsplash
- Ajouri, Philip/von Rahden, Wolfert/Sommer, Andreas Urs: Zum Thema (Das Dorf), in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft IX/2, Sommer 2015, Seite 4.
- Barone, Joshua: Rem Koolhaas Plans A Countryside Exhibition at the Guggenheim, in New York Times 29.11.2017, www.nytimes.com/2017/11/29/arts/design/rem-koolhaas-guggenheim-museum-countryside-exhibition.html?_r=0
- Höhne, Stefan: Die Idiotie des Stadtlebens, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft IX/2, Sommer 2015, Seiten 39-46.
- Illi, Martin und Zangger, Alfred: Stadt-Land-Beziehung, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 2015, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D7881.php
- Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten, Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.
- Schott, Dieter: Kleine Geschichte der europäischen Stadt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Stadt), 27.11.2017, 48/2017, Seiten 11 -18.
- Stahl, Antje: Architekten, raus aus den Städten, in: Neue Zürcher Zeitung 1.12.2017, www.nzz.ch/feuilleton/raus-aufs-land-ld.1333582
- Walter, François: Stadt, 19. Und 20. Jahrhundert, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 2015, www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D7875.php