Dr. Jürgen Häusler in seinem dreiteiligen Plädoyer zum Thema «Wo wollen wir leben?»
Wo wollen wir leben? „StadtundLand“ wäre vor dem Hintergrund des herrschenden Diskurses mit dem allgegenwärtigen Gegensatz zwischen Stadt und Land zunächst einmal ein sehr seltenes, unterscheidbares, ja wohl einzigartiges Angebot. Und „einzigartig sein!“ lautet der meistgehörte Schlachtruf der Zeit. Dies auf den ersten Blick im krassen Widerspruch dazu, dass irgendwie alles doch immer ähnlicher zu werden scheint: Von der Gestaltung von Autos über Ess- und Kommunikationsgewohnheiten bis zu den Ladengeschäften in den Einkaufsstrassen der Innenstädte, den grossstädtischen Skylines oder den Vorstadtarchitekturen. Gleichmacherei scheint unsere moderne Welt zu bestimmen.
Aber sie ist kein Erfolgsmodell für unsere Zeit, die Spätmoderne, die „Gesellschaft der Singularitäten“. Schon die Moderne zeichnete sich durch eine ambivalente Doppelstruktur auf: „Standardisierung und Singularisierung, Rationalisierung und Kulturalisierung, Versachlichung und Affektintensivierung“. Und aktuell dominiert der Drang zur Einzigartigkeit, zur Singularität: „In der Spätmoderne findet ein gesellschaftlicher Strukturwandel statt, der darin besteht, dass die soziale Logik des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Logik des Besonderen. Dieses Besondere, das Einzigartige, also das, was als nichtaustauschbar und nichtvergleichbar erscheint, will ich mit dem Begriff der Singularität umschreiben“ (Reckwitz 2017).
Einzigartigkeit ergibt sich nicht einfach irgendwie, ist also nicht natürlich gegeben, sondern wird „durch und durch“ sozial geschaffen. Es genügt, in anderen Worten, nicht, Merkmale der Einzigartigkeit zu haben – was natürlich schon herausfordernd genug ist. Sondern man muss zusätzlich dafür sorgen, dass man im Selbstverständnis wie in der Aussensicht als einzigartig wahrgenommen und verstanden wird. Die entsprechende soziale Technik zur Entwicklung und Verbreitung einer solchen Einzigartigkeit heisst Markenentwicklung. Marken setzen den Anspruch auf Einzigartigkeit durch, sie erschaffen das alles entscheidende „Singularitätskapital“.
Derartiges Singularitätskapital möchten und können im Rahmen der Erweiterung der Markenzone, also der Ausdehnung der Bedeutung von Marken und des Einsatzes von Marken hinein in immer weitere gesellschaftliche Bereiche, zunehmend auch Destinationen (Städte, Regionen, Nationen) anhäufen.
Wie sehen für eine Destination also die Chancen für das Angebot StadtundLand aus? Ganz offensichtlich wäre dies ein sehr attraktives, differenzierendes und zukunftsträchtiges Angebot. Vor allem, weil das zunehmende Dichte-Erlebnis in Städten nicht mehr hauptsächlich befreit, sondern offensichtlich auch krank macht. Fragen zur Urbanisierung sind nach gängigen Analysen «nicht nur eine Frage der Ästhetik oder des Geschmacks, sondern eine auf Leben und Tod – oder doch eine, die grundsätzlich immer auch zu Gesundheit oder eben Krankheit führt» (Matzig 2017). Bildhaft gesprochen: Erst bauen Menschen Städte, dann bauen Städte Menschen – und dies in der modernen städtischen Gesellschaft orientiert am Vorbild der Legehenne. Ein Alternativangebot, das Stadt und Land vereint, das Metropolencharakter und Naturerlebnis gleichzeitig bietet, ist dann offensichtlich attraktiv: sicher wollen nicht alle Menschen «Legehennen» sein.
Das Angebot StadtundLand wirkt insbesondere anziehend, wenn auch die Alternative Stadt oder Land zunehmend unattraktiv wird. Weder chronisch verfestigter Stress und Dauerstress (in den Städten) noch Dauerstau (beim Pendeln zwischen Stadt und Land) sind erstrebenswert für alle. Das Pendeln zwischen beiden (jeden Tag, jedes Wochenende) ist zweifelsohne für eine hinreichend grosse Zielgruppe abstossend. Warum sollte man Dauerstress hinnehmen, nur damit man in bestimmten Abständen durchatmen kann?
In einer alternativen Raumkonstellation – umschreiben wir sie ambivalent-vielsagend als NaturMetropole – kann man dort arbeiten, wo man leben möchte. Alles ist nah – ohne eng zu sein. Ein dichter Erlebnisraum – aber stressfrei. Kein dauerndes Durchdrehen, um hin und wieder mal ordentlich aufdrehen zu können. Nicht «gestapelt, verengt, intensiviert, konzentriert, gedrängt» – sondern grossartig vielfältig, spannungsreich vital und entspannt erreichbar.
Die stressgeplagte Städterin sucht lechzend nach dem Stückchen öffentliches Grün, nach den wenigen Plätzen oder Parkanlagen – in der NaturMetropole lebt und arbeitet sie inmitten des Grüns. Aus dieser Metropole muss man nicht erst raus, um Natur zu erleben. Stattdessen geht es zu Fuss oder mit dem Fahrrad zum Kulturerlebnis oder zur Arbeit. In der Arbeitspause oder nach dem Feierabend bewegt man sich um die Ecke ins Freizeitvergnügen im Grünen.
Die NaturMetropole setzt den Problemen der Verstädterung weder die Begrünung der Städte noch die Landflucht entgegen. Kein entweder oder. Arbeit oder Freizeit. Luft holen oder Kultur erleben. Freiheit oder Geborgenheit. Innovativ-kreativ oder geerdet in sich ruhend. Ein sowohl-als-auch. Nicht Stadt oder Land. Sondern Stadt und Land.
Es werden vorhersehbar in spätmodernen Gesellschaften einige oder sogar zahlreiche Angebote der Kategorie StadtundLand auftauchen. Die Probleme der beiden bestehenden Raumangebote sind zu offensichtlich und zu drängend. Die Attraktivität des neuen Angebots ist für Anbieter einer dritten Option (verantwortliche Akteure in Regionen) potentiell sehr wertvoll, weil sie qualifizierte Arbeitsplätze, nachhaltige Investitionen, sozial-kulturelle Bereicherung und gesellschaftliche Dynamik verspricht.
Und das Angebot ist für Menschen sehr verlockend, die sich grundlegend, offen und international oder weltweit die Frage stellen, wo sie dauerhaft leben (und arbeiten) möchten (Investoren, Unternehmer, Arbeitnehmer und Studenten).
Quellen:
- Matzig, Gerhard: Wenn Städtebau zur Gesundheitsfrage wird, in: Süddeutsche Zeitung, 28.11.2017, www.sueddeutsche.de/kultur/2.220/staedtebau-es-wird-eng-in-den-deutschen-staedten-1.3769287
- Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten, Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017