Mehr als (Standort-)Marketing
Zur unmittelbar ansprechbaren Zielgruppe der dritten Option, StadtundLand, gehören insbesondere bestimmte Teile der sogenannten „Creative Class“. Diese wurde einst und wird noch immer gefeiert als die treibende Kraft hinter der dynamischen Entwicklung der modernen Metropolen (Florida 2002).
Ihre besondere Bedeutung für die ökonomische Entwicklung von (allerdings faktisch nicht nur städtischen) Räumen gewinnt die Creative Class wegen der innovationsfördernden Wirkung ihrer Aktivitäten: „developing, designing or creating new applications, ideas, relationships, systems or products, including artistic contributions“ (McGranahan/Wojan 2007). Zu ihr gehören daher beispielsweise Führungskräfte generell, Marketing- und Vertriebsexperten, Finanzmanager, Wirtschaftsprüfer, Architekten, Ingenieure, Computerexperten, Kulturschaffende, Künstler, Designer sowie Spitzenkräfte aus den Sektoren Recht, Erziehung, Medien. In den USA fühlt sich diese Creative Class nachweisbar in grosser Zahl auch ausserhalb von Städten wohl: „The creative class is growing most rapidly in areas that are mountainous, with a mix of forest and open area (but with relatively little cropland), and where winters are sunny“. Es ist hervorzuheben, dass diese Darstellung nicht nur touristische Attraktivität bezeichnet (was unmittelbar einleuchtet), sondern eben auch attraktive Lebens- und Arbeitsräume in den Augen der Creative Class beschreibt. Woran erkennt man die attraktiven Regionen im Kleinen (als repräsentativ stellvertretender “Proxy”): “Counties with a relatively large number of bicycle and sports stores per capita have gained more than their share of the creative class”.
Ansprechbar sind sicher insbesondere jene Teile dieser Creative Class, die sich inzwischen zutiefst enttäuscht von urbanen Fehlentwicklungen nach neuen Lebensformen und Lebensorten sehnen. Für sie gilt exemplarisch, dass persönliche Einstellungen (beispielsweise die Suche nach authentischen, nachhaltigen Lebens- und Arbeitsformen und kulturelle Weltoffenheit) und strukturelle Rahmenbedingungen (insbesondere Digitalisierung der Arbeitswelt und innovative Kommunikations- und Verkehrsinfrastrukturen) die Suche nach neuen Lebensorten – jenseits der metropolitanen Agglomeration oder der romantischen Idylle des Landlebens – vielversprechend erscheinen lässt und eben auch möglich macht.
Eine nachweisbare Anziehungskraft haben nicht-metropolitane Lebens- und Arbeitsräume schon länger für Teile der Creative Class: „the appeal of natural amenities and associated recreational opportunities is sufficiently strong for many in the creative class to locate in rural areas rich in outdoor amenities“ (McGranahan/Wojan 2007). Dies gilt allerdings nur dann, wenn die nicht-städtischen Räume gleichzeitig wesentliche Bestandteile des urbanen Lebens auch bieten, insbesondere “a sufficient density to provide a reasonable level of services“.
Und das Angebot ist für Menschen sehr verlockend, die sich grundlegend, offen und international oder weltweit die Frage stellen, wo sie dauerhaft leben (und arbeiten) möchten (Investoren, Unternehmer, Arbeitnehmer und Studenten).
Zwischen den möglichen Anbietern weltweit wird es zum Wettbewerb kommen. Wer wird von den attraktivsten Zielgruppen am meisten gehört, am besten verstanden und in ausreichendem Umfang ausgewählt? Bei der Einschätzung der jeweiligen Erfolgsaussichten geht es um mehr als Kommunikations- oder Vermarktungsanstrengungen.
Das Angebot, ein einzigartiger Lebens- und Arbeitsraum, richtet sich nicht an Individuen, sondern an „Haushalte“. Weitreichende Entscheidungen, wie eine Umsiedlung beispielsweise nach dem Studium, vielleicht sogar grenzüberschreitend, fallen nicht als isolierte Entscheidungen von Einzelpersonen, sondern als kollektive Entscheidungen unter Beteiligung der näheren sozialen Umgebung (Familie, Partnerschaften, Haushalte). Deren kollektive Bedürfnisse und Wünsche, Hoffnungen und Träume müssen angesprochen werden. Haushalte müssen wohnen (Haus oder Wohnung mit der jeweiligen räumlichen Umgebung und Inneneinrichtung), sich ernähren (zuhause oder auswärts), sich ausstatten (Kleidung, Konsumgüter etc.), Einkommen generieren (Arbeits- bzw. Investitionsmöglichkeiten), sich finanzieren (Finanzen regeln mit Banken und/oder Versicherungen), sich unterhalten (Freizeit/Sport/Kultur), sich pflegen (Fitness/Wellness/Gesundheit), sich sozialisieren (Menschen/Institutionen/öffentliche Räume), sich bewegen (Mobilität, nah und fern, Infrastrukturen und Vehikel), sich bilden (aus-/fort- und weiterbilden), sich informieren (Medien, Veranstaltungen), kommunizieren (Kanäle und Veranstaltungen) – und schliesslich wollen sie sich wohlfühlen (Lebensstil, Wertegerüst, Image, Stabilität, Zukunftssicherheit …).
Nachhaltiger Erfolg setzt grundlegend vor allem voraus, dass die Markenerlebnisse für die angesprochenen Zielgruppen in allen relevanten Feldern des menschlichen Zusammenlebens „stimmen“, d.h. dem Markenversprechen entsprechen: von der individuellen und kollektiven Mobilität bis zu sozial-kulturellen Netzwerken, von erstklassigen Ausbildungs- und Fortbildungsmöglichkeiten bis zur umfassenden Gesundheitsvorsorge, von „harten“ technischen Infrastrukturangeboten bis zu „weichen“ emotionalen Identifikationsangeboten.
Attraktive Angebote in all diesen Bedürfnisfeldern sowie die damit verbundenen realen Erfahrungen und Erlebnisse müssen einzigartig sein und es im Ergebnis tatsächlich und ohne tiefe Einschränkungen möglich machen, dort zu arbeiten, wo man schon immer mit Familie und Freunden leben wollte. Dort werden dann Haushalte gegründet, diese Orte wählen Haushalte als ihr Zuhause. Am Ende könnte das Fazit stehen: „Dies ist der glücklichste Ort der Welt. Wir können uns nicht aussuchen, wo unser Leben beginnt, aber vielleicht, wo es zu Ende geht» (Judt 2012) – oder doch zumindest, wo ein längerer Lebensabschnitt „stattfindet“.
Dieser Traum kann nicht überall realisiert werden. Seine geografischen, ökonomischen und sozialen Voraussetzungen sind real wahrscheinlich nur sehr selten anzutreffen. Aber es kann als glaubwürdige Vision, als handlungsleitende Entwicklungsperspektive und als erfolgversprechendes Entwicklungsmodell dort angegangen werden, wo das Miteinander und Ineinander von Natur und Kultur, von Tradition und Fortschritt gelebt wird oder eine gute Chance hat, wo spannende Gegensätze zu motivierenden Gemeinsamkeiten führen oder zu führen versprechen, wo breite Vielfalt als dichte Einheit schon heute zumindest vereinzelt und zukünftig ganz umfassend erlebt werden kann, wo Ursprung bewahrend und kreativ für zukünftige Generationen kultiviert wird.
Im Ergebnis könnte in der Spätmoderne das Gegensatzpaar Stadt-Land als leitende Idee und als reale Lebenswelten ersetzt werden durch ein neues Verständnis von Metropole im 21. Jahrhundert. Als dritter möglicher Weg, wenn es um die Frage geht, wo Menschen leben wollen.
Quellen:
- Florida, Richard: The Rise of the Creative Class. … and how it`s transforming work, leisure, community, & everday life, New York 2002.
- Judt, Tony: Das Chalet der Erinnerungen, München 2012.
- McGranahan, David/Wojan, Timothy: Recasting the Creative Class to Examine Growth Processes in Rural and Urban Counties, in: Regional Studies, Vol. 41.2, April 2007, Seiten 197-216.