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Sparen Sie sich die Zeit, das zu lesen!

ChatGPT und weitere KI-Kolleginnen werden zunehmend zur Zeitmaschine für gestresste Agenturkreative. Husch, husch das Kundenbriefing reinkopieren und mal schauen, was die AI innert Sekunden rausspuckt!?

Adrian Schaffner

| 31. March 2023

Genauso ist es hoffentlich nicht, aber es gibt schon zu denken, wenn man kürzlich in der Online-Version dieses Magazins lesen konnte: «AI kommt schon länger zum Einsatz…», «hat stark zugenommen…», «testen wir laufend…», «nutzen wir für die strategische Ideenfindung…» oder «wird unsere Branche tiefgreifend verändern…».

Stehen Agenturleute derart unter generellem Zeit- und Kostendruck, dass es künftig AI richten muss? Oder sind das alles nur faule Kreative, die lieber Jasper, Sythesia oder Dall-E arbeiten lassen und selbst kaum einen Finger krümmen? Nicht nur in den Agenturen steigt das Tempo des Alltaglebens. Das verfügbare Zeitbudget wird auch bei unseren Zielgruppen – den Konsumenten – zum knappen Gut. 2004 – also bereits vor rund 20 Jahren – hat die GfK in einer Studie zum persönlichen Zeitstress als These festgehalten: «Die einen werden Geld ausgeben, um Zeit zu gewinnen, die anderen wenden Zeit auf, um Geld zu sparen.» Die daraus resultierende Frage erscheint aus Marketingsicht nicht uninteressant: Ist Zeitmangel also eher Bremse oder Motor des Konsums?

Absurd erscheint dabei die Tatsache, dass in der westlich geprägten Welt die Menschen noch nie so viel Freizeit hatten wie heute. Und trotzdem fühlen sich viele von der Zeitknappheit gestresst. Ein Fluch scheint auf uns allen zu liegen, denn so steht wegen Kains Brudermord schon in der Genesis geschrieben: «Rastlos und ruhelos wirst Du auf Erden sein.»

Zumindest hat das auch etwas Tröstliches: Rastlosigkeit scheint keine Erfindung unserer Zeit zu sein. Und Hölderlin hat uns ebenfalls vor einer ganzen Weile schon mit auf den Weg gegeben: «So eile denn zufrieden.» Das Leben wird höllisch schnell, glaubte Hölderlin um 1800.

Nicht selten wird die Zeitnot zur Schau gestellt. Damit wird suggeriert, dass man klar und unmissverständlich zu den Leistungsträgern der Gesellschaft gehört. Menschen die immer Zeit haben, werden wohl nicht gebraucht oder kriegen eh nichts auf die Reihe. Dieser hochstilisierten Not steht der Trend der Entschleunigung krass gegenüber. Mit Slow Food, Quality-Time-Seminaren und Digital Detox lässt sich nämlich gut Geld verdienen. Die Gestressten suchen nach Freiräumen im Tagesablauf und stressen sich damit vielleicht nur noch mehr.

Bei jungen Menschen lässt sich ein interessantes Phänomen beobachten. Studierende haben während der Corona-Pandemie Vorlesungen nicht live am heimischen Bildschirm verfolgt, sondern aufgenommen. Dann haben sie es später mit anderthalbfacher Geschwindigkeit nachgeschaut. So studiert es sich messbar schneller. Schulstunden dürften laut Studien nur noch 23 Minuten lang sein. Exakt die Dauer einer Episode der «Simpsons». Serienjunkies kennen dieses Prinzip eh schon länger. So werden einzelne Folgen mit hochgedrehter Geschwindigkeit gestreamt. Wenn dann noch die Werbung geskippt wird, verkürzt sich «Grey’s Anatomy» auf die Hälfte der Sendezeit.

Beim Musikkonsum kann man ebenfalls mit «Sped Up» einen frischen Trend erkennen. Auf TikTok laufen die Tanzvideos schon mit Normalgeschwindigkeit wie auf Droge und Lady Gaga tönt dann wie Mini Mouse. WhatsApp hat den Trend ebenfalls entdeckt und lässt per «Klick» Sprachnachrichten schneller abspielen. Apropos Sprache: Wenn wir Zeit sparen oder sogar Zeit gewinnen, dann müssten wir die Zeit auch wieder gescheit investieren – sonst überlassen wir sie eh nur einem der oben genannten Zeitfresser.

Eine gute Investition wäre das Lesen. Lesen tun Sie jetzt auch gerade – trotz der Headline. Und wenn Sie zu den Schnelllesenden mit 400 und mehr Worten pro Minute gehören, haben sie sogar gemäss Studien eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass sie Inhalte besonders gut erfassen und verstehen können. Herzliche Gratulation!

Die grosse Frage bleibt trotz aller Beobachtungen bestehen: wie gehen wir als Marketer und Designer mit unserer eigenen Zeitknappheit und der unserer Zielgruppen um? Vielleicht liegt die Antwort in der Fähigkeit, zu warten und Pausen zu nutzen – zum Beispiel für kreative Ideen und zur schlichten Musse. Oder in den Worten von Tolstoi: «Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann.»

 

Ein Beitrag für das Agenturnetzwerk ASW – erschienen bei der persönlich Verlags AG

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