Man darf annehmen, dass es sich bei der Chefjuristin und dem Pharmaunternehmen nicht um vernachlässigbare Einzelfälle oder Ausnahmen handelt. Eher wird der Regelfall beschrieben.
Im unternehmerischen Alltag ist weitgehend unklar, was «sich gehört und was nicht». Meist ist es Mitarbeitern nicht möglich, «am Abend zu Hause am Familientisch mit gutem Gewissen über (ihre) Arbeit (zu) sprechen». Könnte es Mitarbeitern bei so unterschiedlichen Unternehmen wie Facebook und Volkswagen in diesen Tagen ganz ähnlich gehen?
Werden vereinzelte, bedauerliche Sonderfälle beklagt? Offensichtlich nicht. Angeklagt wird vielmehr die herrschende Unternehmenskultur. Notwendig erscheint ein grundlegender «Kulturwandel», «um die Vergangenheit hinter sich zu lassen» – nur bei Novartis? Mit viel Liebesmühe entwickelte Prinzipien müssen dort zukünftig beispielsweise dafür sorgen, dass «Patienten und ihre Bedürfnisse an die erste Stelle» gerückt werden. Es erstaunt auf den ersten Blick, dass kompromisslose Kundenorientierung im Alltag bisher wohl zur Diskussion stand – wie bekanntlich andernorts auch bei Abgastestverfahren. Zukünftig sollen Sponsoring-Aktivitäten «verantwortungsbewusst» vonstatten gehen. Konkret soll es nicht mehr vorkommen, «Ärzten einen Gefallen zu tun, damit diese, gewissermassen als Gegenleistung, anschliessend bevorzugt Medikamente der einladenden Firma ihren Patienten verschrieben.» Wirkt analog das Sponsoring von Coca-Cola, wenn die Erforschung der gesundheitsschädlichen Wirkung von Softdrinks mit Millionen gefördert wird?
Neben fünf Prinzipen umfassen sieben Leitfäden den neuen Verhaltenskodex bei Novartis. Vertraut wird darauf, dass dieser zukünftig «unangemessene Praktiken» verhindert. Um Vertrauen nicht unangebracht zu strapazieren, steht zur Unterstützung ein Bereich «Integrity & Compliance» mit über 500 Beschäftigten bereit. Diese «prüfen fortlaufend, ob sich Novartisangestellte an die Regeln des Konzerns halten». Gleichwohl gesteht sich selbstkritisch die unternehmerische Sittenwärtin ein, dass es auch weiterhin vereinzelt schwarze Schafe geben könnte.
Das sich hier offenbarende Modell des «sündigen Unternehmens» hat universelle Gültigkeit. Novartis, Coca-Cola, Volkswagen, Facebook … Angeprangert werden stets einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Herrschende Unternehmenskulturen (inklusive Wachstums- und Gewinnvorgaben, finanziellen Anreizsystemen usw.) werden von diesen nicht oder missverstanden. Oder es handelt sich eben um die gerade obsolet gewordenen Unternehmenskulturen von gestern. Nachgegangen wird dem Missstand erst dann, wenn er zu kostspielig wird. Verhindert werden sollen vorrangig teure Rechtsfälle. Führungskräfte sind stets nicht oder viel zu spät informiert. Verantwortlich sind sie in keinem Fall. Und der mit kommunikativem Feuerwerk ausgerufene Kulturwandel steht letztlich dann doch nur für wuchernde Überwachungsapparate – vor allem in Form der Kalkulationstabellen des Controllings. Die «tyranny of metrics» (Jerry Z. Muller) wird vorhersehbar dazu führen, dass der vermeintliche Pfad der Tugend bei nächster Gelegenheit wieder verlassen wird. Dann ist der nächste Kulturwandel angesagt.