Regionen erlangen zunehmend Bedeutung, wenn es darum geht, ökonomisches Wachstum zu erklären. Ein Perspektivenwechsel scheint sich in der Wirtschaftsgeschichte zu vollziehen. Danach wird gesellschaftliche Entwicklung nicht nur in städtischen Zusammenhängen vorangetrieben. Und verschiedene Wachstumspfade verbinden sich nicht nur mit unterschiedlich erfolgreichen Nationen. Nicht die Differenzen zwischen Nationen bestimmen die Lebensbedingungen von Menschen umfassend. Zunehmend sind dies die Unterschiede innerhalb der Nationen («within-country variation», so der Wirtschaftshistoriker Guido Tabellini). Gerade vor dem Hintergrund der Globalisierung(en) in unserer Zeit gewinnen regionale Geschichten an Bedeutung zur Erklärung unterschiedlicher Wachstumspfade: «systematic differences in behavior can be traced back to different regional histories» (Guido Tabellini: Culture and Institutions: Economic Development in the Regions of Europe, in: Journal of the European Economic Association, June 2010, 677-716).
Und wodurch zeichnen sich diese «regional histories» aus? Was erklärt geschichtlich die unterschiedlichen Wachstumserfolge? Sind es die üblichen Verdächtigen, also die typischerweise genannten «harten» Standortfaktoren (Steuersätze, Gehaltsniveaus, Regulierungsdichte)? Die methodisch anspruchsvolle und umfassende Analyse des Wirtschaftshistorikers von 69 Regionen in 8 europäischen Nationen kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Entsprechend dieser Studie sind es die jeweiligen Kulturen in den Regionen, die den Ausschlag geben. Erfolgreich waren und sind demnach die Regionen, die hinreichend mit «sozialem Kapital» ausgestattet sind, in denen untereinander Vertrauen herrscht und gegenseitiger Respekt. Dazu muss sich ein hohes Vertrauen in die Fähigkeiten einzelner Menschen (schon bei Kindern) gesellen und die Bereitschaft, den Ungehorsam von abweichendem Verhalten (auch bei den eigenen Kindern) zu tolerieren.
Natürlich bleiben im Anschluss an diese statistische wirtschaftshistorische Analyse noch viele Fragen offen. Zwei drängen sich auf.
Zunächst: «How are they (cultural traits) formed and transmitted over time»? Wie organisiert man die Herausbildung dieser «soft factors»?
Und: Wie kommen wir in die Zukunft trotz des Postulats: «history as the main determinant of current economic development»? Ein weiterer «soft factor» gerät dann in den Blickwinkel – Zukunftserwartungen: «In Anbetracht der Komplexität der wirtschaftlichen Entwicklungen bilden sich Akteure, wenn sie über Investitionen, Innovationen, Kredite oder Konsum entscheiden, Vorstellungen davon, wie die Zukunft aussehen wird und wie sich ihre Entscheidungen auf die zukünftigen Ergebnisse auswirken werden.» (Jens Beckert, Imaginierte Zukunft. Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus, 2018, 448). Und ihre jeweilige Ausgestaltung schafft unterschiedliche regionale Wachstumsperspektiven. Es ist letztlich erfolgsentscheidend «how different human societies organize the future as a cultural horizon» (Arjun Appadurai, The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition, 2013, 5). Auch diese vor Ort existierende, oder eben eingeschränkte, Fähigkeit ist Teil des angesprochenen regionalen «social capital».