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Wären Agenturen die besseren Autobauer?

Heutzutage zählen die Assistenzsysteme moderner Autos bis zu 100 Millionen Codezeilen. Dass da manchmal die eine oder andere Zeile nicht das tut, was sie eigentlich sollte, ist also nicht erstaunlich. Touch-Bedienfelder, Gestenkontrolle oder Sprachassis versuchen die individuelle Mobilität zu vereinfachen.

Adrian Schaffner

| 07. April 2022

Klassische Drehregler, Knöpfe und Tasten haben ausgedient. So kann es passieren, dass die Einstellung des Scheibenwischerintervalls nur über die zweite Ebene im Navigationsmenü des Touchscreens veränderbar ist. Ein gefährliches Unterfangen, wenn man bei einem Platzregen mit 120 km/h über die Autobahn brettert. In Deutschland musste deswegen ein Teslafahrer seinen Ausweis abgeben. Seine Fahrt endete in einem Baum, als er den Scheibenwischer nachjustieren wollte. Die Richter taxierten dies als «nicht erlaubte Bedienung eines elektronischen Gerätes während der Fahrt». Dass sich das Handschuhfach beim Tesla ebenfalls nur über den Touchscreen öffnen lässt, entbehrt wohl jeder Logik.

Die Digitalisierung hat bei Automobilen – vor allem bei Elektrofahrzeugen – riesige Sprünge vollzogen. Die Betriebssicherheit und Usability bleibt dabei leider auf der Strecke. So muss VW mehrfach den Golf 8 in die Werkstätten zurückbeordern, um erneuerte Software hochzuladen. Damit sollen Probleme wie versehentliches Bremsen, Funktionsstörungen beim Notrufassistenten oder kryptische Fehlermeldungen ausgemerzt werden. Aus Werkstattkreisen ist zu vernehmen, dass VW innerhalb eines Jahres über ein Dutzend Updates und Bugfixes bereitgestellt hat und man bei der Golf 8-Software in der Zwischenzeit etwas die Übersicht verloren habe. Der Major-Release, der dieser Tage herauskommen wird, soll nun alle Sorgen beheben.

 

Bitte vorsichtig fahren!

Dass bei einem Newcomer wie Tesla zuweilen die Bedienung nicht ganz koscher ist, kann man ja noch verzeihen. Aber bei einem «Oldtimer» wie der Marke VW erscheint es doch recht abenteuerlich, wenn das Assistenzsystem in vollem Betrieb meldet, dass alle «Warnungen und Funktionen nicht verfügbar» seien und man bitte «vorsichtig fahren» möge. Diese Erfahrung der anderen Art stammt nicht vom Hörensagen, sie ist mir bei meiner automobilen Neuanschaffung selber passiert. Damit nicht genug: das Touch-Bedienfeld am Steuerrad musste nach wenigen Wochen ausgewechselt werden weil die Lenkung pausenlos vibrierte. Eine Funktion, die den Fahrenden darauf hinweisen soll, wenn er oder sie vom Weg abkommt.

So richtig aus der Kurve geflogen ist die Usability. Online-Foren sind voll von entsprechenden Anekdoten. Den linken Arm etwas ungeschickt auf die Armlehne gelegt und man schaltet versehentlich das komplette Fahrlicht aus. Die Klimatisierung ist nur über das Touchdisplay zu bedienen. Die Spracherkennung versteht zwar «Bahnhof» und führt da hin aber «Spurassistent ausschalten» quittiert die freundliche Stimme mit «diese Funktion ist leider nicht verfügbar». Und der unbeleuchtete Slider für die Radiolautstärke am Fusse des Bildschirms lässt keine vernünftigen Einstellungen zu – schon gar nicht bei Dunkelheit.

Apropos Tappen im Dunkeln: Bei all den Unwegsamkeiten darf man sich schon fragen, ob es sich eine Marke wie VW auf die Dauer leisten kann, nach Dieselgate nun auch noch die Digitalisierung und elektrifizierte Zukunft gegen die Wand zu fahren. Und wenn wir gerade dabei sind: Welcher Marke trauen wir autonome Mobilität eher zu? VW oder nicht doch Google?

 

Was hat das alles mit uns Agenturen zu tun?

Im Agenturbusiness backt unsereins wesentlich kleinere Brötchen als globale Autobauer und die Komplexität ist sicherlich nicht vergleichbar. Was jedoch erstaunt ist die Tatsache, dass zumindest die etablierte Automobilbranche es nicht verstanden hat, frühzeitig und agil auf neue Gegebenheiten zu reagieren und die Kundenbedürfnisse zu erkennen. Agenturen, die nicht wissen, wie die unterschiedlichsten digitalen Herausforderungen zu meistern sind, werden über kurz oder lang vom Markt verschwinden. Die Bandbreite digital geprägter Themen ist auch im Agenturbusiness beträchtlich. Die Swiss MarTech Studie 2021 der ZHAW prognostiziert 500 Millionen Apps und digitale Services, die in der kommenden Dekade weltweit entwickelt werden. Sei es im Online-Shop, bei Suchtreffern, der Kommunikation in den Sozialen Medien oder einer crossmedialen Kampagne: Kundinnen und Kunden stehen im Mittelpunkt, wollen mit ihren Interessen und Wertkonstellationen ernst genommen werden. Authentizität, Vertrauen und ehrliche Beziehungspflege sind Bedürfnisse, die durch die Kommunikationsbranche bereitzustellen sind.

Volkswagen gelobt in der Zwischenzeit Besserung und hat die Entwicklung von Softwarezur neuen Kernkompetenz des Konzerns erklärt. Im Moment liegt der Eigenanteil derEntwicklung gerade mal bei 15 bis 20 Prozent. Bis 2025 will das Unternehmen den Anteil auf 60 Prozent steigern und hat dafür eigens die Software-Tochter «Cariad» gegründet.4500 Ingenieurinnen und Ingenieure arbeiten bereits für den Volkswagen-Ableger. Wird VW dank den getroffenen Massnahmen und einer starken Marke doch noch die Wendeschaffen? Ich für meinen Teil hoffe es. Sonst gäbe es keine Updates mehr für meinen Computer auf vier Rädern.

 

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